Junge Menschen verlassen immer später das Elternhaus. Das Phänomen „Hotel Mama“ scheint weit verbreitet. Doch was ist dran an dieser Wahrnehmung? Eine Spurensuche.
Ich muss euch etwas Wichtiges sagen. Bei diesen Worten ihrer Tochter Tatum Koch schnellt der Puls der Eltern kurzzeitig nach oben. Doch das fröhliche Gesicht ihrer Tochter lässt die anfängliche Aufregung rasch wieder verschwinden. „Mama, Papa, ich ziehe nach Berlin“, sagt die 20-Jährige. In der Hauptstadt beginnt Tatum im Oktober ihr Modemarketing-Studium an einer privaten Berliner Universität. „Natürlich habe ich recherchiert, ob öffentliche Hochschulen diesen Studiengang anbieten und ob ich von Koblenz aus pendeln könnte. Aber das ist leider nicht der Fall“, sagt sie. „Dieses Studium ist mein Traum und ich möchte bei meinem Berufswunsch keinen Kompromiss eingehen.“
Dass sich junge Menschen von zu Hause abnabeln, ist nicht überraschend. Doch warum kommt der Zeitpunkt häufig später als noch vor 20 oder 30 Jahren? Selten war die Bindung zwischen zwei Generationen so stark wie heute. Die Rollenbilder haben sich grundlegend geändert. Viele Eltern nähern sich mit ihrem Lebensstil dem ihrer Kinder immer mehr an. Die Abgrenzung zwischen beiden Seiten wird immer schwieriger. Und auch die Rahmenbedingungen haben sich gewandelt: Die Bildungsphasen sind länger geworden, Arbeitsmärkte unbeständiger, es wird deutlich später geheiratet und eine Familie gegründet. „Ich kenne viele, die bei den Eltern wohnen bleiben“, sagt Tatum. „Es geht mir ja nicht darum, um jeden Preis auszuziehen, sondern darum, meinen Plan umzusetzen.“
Hoher Preis
Junge Menschen sind heute nicht mehr so auf Karriere aus wie vorangegangene Generationen. Ihre persönlichen Vorstellungen vom Leben zu verwirklichen ist ihnen wichtiger. Die Konsequenz: Materielle Unabhängigkeit vom Elternhaus stellt sich später ein. Junge Menschen stehen vor der Herausforderung, Selbstständigkeit ohne Eigenständigkeit zu meistern. Kann das gelingen? Tatum erlebt gerade, wie hoch die Hürden auf dem Weg in die eigenen vier Wände sein können. Die Eltern stehen hinter ihrer Entscheidung, aber die angehende Studentin will finanziell nicht komplett von ihnen abhängig bleiben. Deshalb nimmt sie bei der BBBank einen Studienkredit auf. Bis zum Semesterbeginn jobbt sie zusätzlich noch, um möglichst viel Geld zurückzulegen. Danach will sie sich ausschließlich auf ihr Studium konzentrieren.
Das kostenfreie Girokonto der BBBank leistet Tatum wertvolle Unterstützung. „Mit der Banking-App habe ich meine Finanzen immer im Blick“, sagt sie. „Das ist wichtig, wenn man kaum finanziellen Spielraum hat.“ 460 Euro zahlt sie für ihr 20 Quadratmeter großes Zimmer in einer Berliner Wohngemeinschaft. „Eine meiner Freundinnen muss für ein Zimmer gleicher Größe sogar 650 Euro aufbringen.“ Hobbys, denen Tatum noch als Schülerin nachgehen konnte, entfallen. „Ich hatte Klavierunterricht und habe Kung-Fu trainiert. Das kann ich mir nicht mehr leisten.“ Aber Tatum nimmt es gelassen. „Ich muss ja nicht ins Fitnessstudio, wenn ich draußen auch kostenlos joggen kann.“

Widersprüchliche Untersuchungen
In der Öffentlichkeit ist schon seit Jahren die Wahrnehmung verbreitet, junge Erwachsene wollten nicht ausziehen. Diese mangelnde Bereitschaft, die Komfortzone zu verlassen, bekam das griffige Etikett „Hotel Mama“ verpasst. Jedoch scheinen die Familiensoziologen Dirk Konietzka und André Tatjes diesen Trend mit ihrer Untersuchung zu widerlegen: Die beiden Wissenschaftler der TU Braunschweig kombinierten Befunde aus neun großen Umfragen zu einer einzigartigen Datensammlung. Darin enthalten sind die Informationen von insgesamt fast 30.000 Befragten – alle in Westdeutschland zwischen 1925 bis 1984 geboren. In dieser langen Zeit habe sich das Auszugsalter nicht deutlich nach hinten verschoben, lautet das Ergebnis, das die Wissenschaftler in der Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie vorstellten.
Allerdings liegt der untersuchte Zeitraum weit zurück – und die Daten des Deutschen Jugendinstituts belegen tatsächlich ein immer späteres Flüggewerden: Wohnten im Jahr 1972 im früheren Bundesgebiet nur 19,5 Prozent der 25-Jährigen im Haushalt der Eltern, waren es im Jahr 2000 in Deutschland 30 Prozent, also rund die Hälfte mehr. Noch klarer ist die Situation in den europäischen Nachbarländern. Dort spiele, so die Einschätzung zahlreicher Experten, die hohe Jugendarbeitslosigkeit eine gewichtige Rolle. Selbst wenn der Wille zur Selbstständigkeit ausgeprägt sei, fehle vor allem in Italien, Spanien oder Griechenland eine wirtschaftliche Perspektive für den erfolgreichen Schritt ins eigene Heim.

Selbstständigkeit als Erziehungsziel
Denn die größere Freiheit steht meist dem Verzicht auf Annehmlichkeiten gegenüber. Das weiß auch der Hamburger Entwicklungspsychologe Michael Thiel. Charakter, Geld und Erziehung – dies seien die drei Hauptgründe, die junge Leute am Abschied aus dem Elternhaus hinderten. Selbstständigkeit, so Thiel, müsse ein Erziehungsziel sein. Oft sind es aber gerade die Mütter und Väter, die sich jahrelang fast ausschließlich über ihre Elternrolle definiert haben und denen das Loslassen dann schwerfällt. Hinzu komme, dass die Zahl der Kinder in den Familien seit den 70er-Jahren immer weiter abgenommen hat. Damit steige automatisch das Maß der Aufmerksamkeit und Fürsorge für das einzelne Kind.
Erneute Trendwende bei Studenten
Tatum weiß, dass ihr Auszug auch einen Meilenstein für ihre Eltern bedeutet. „Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich in meiner Entscheidung frei bin“, sagt sie. Dass es für ihre Eltern eine einschneidende Veränderung ist, wenn das Kind das „Nest“ verlässt, ist ihr bewusst. „Doch das Motiv wurde nie von meinen Eltern gespielt.“ Mit ihrer Entscheidung ist Tatum nicht allein. Es gibt Indizien dafür, dass sich Studenten wieder früher vom Elternhaus lösen. In seiner aktuellen Sozialerhebung erkannte das Deutsche Studentenwerk einen Trend zur eigenen Wohnung. Gaben in einer Untersuchung 2012 noch 23 Prozent der Studenten an, bei den Eltern zu wohnen, waren dies 2016 nur noch 20 Prozent. Immer mehr ziehen in Wohnheime, Wohngemeinschaften oder gemeinsame Wohnungen mit dem Partner. Wer bei den Eltern wohnt, hat statistisch gesehen eine längere Anfahrtszeit zur Hochschule.
„Ich habe immer das Gefühl gehabt, dass ich in meiner Entscheidung frei bin.“
TATUM KOCH
Die Verbindung zum Elternhaus will Tatum trotz räumlicher Trennung lebendig halten. „In Zeiten von Facebook und Social Media ist das kein Problem“, sagt sie. Und: „Ausgiebige Telefonate mit meiner Mutter wird es immer geben.“